November 2014
Adalbert Stifter
2007 gab es - alle Bibliotheken Deutschlands waren daran beteiligt - einen Wettbewerb um den schönsten ersten Satz in einer Geschichte, den Leser und Leserinnen je gelesen hatten. Ich nahm an dem Wettbewerb teil, und für mich stand damals fest, so wie dies auch heute noch feststeht, dass es der erste Satz aus Adalbert Stifters „Bergkristall“ sein wird. Denn die Geschichte ist wunderschön! Nur der erste Satz in dieser Geschichte für sich genommen kommt sehr bescheiden daher. Er lautet: „Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen.“ – Dies also sollte wirklich der schönste erste Satz einer Geschichte sein, den ich je gelesen hatte? Das stimmte so ja auch gar nicht. Ich konnte mich an den ersten Satz aus der Geschichte gar nicht erinnern; sondern umgekehrt: Ich erinnerte die Geschichte als so wunderschön, dass ich gewillt war, den ersten Satz aus der Geschichte als den schönsten ersten Satz, den ich je gelesen hatte, einfach so anzunehmen.
Für den Wettbewerb musste neben der Angabe des Autors und des ersten Satzes die Geschichte auf sehr knapp bemessenem Raum dargestellt werden. Ich meine mich zu erinnern, dass sie Platz auf einer Karte im Postkarten-Format finden sollte. Das machte mir einige Mühe. Aber es gelang, und ich schickte die Karte ab. Natürlich habe ich nie wieder etwas davon gehört. Ich war nicht die Siegerin des Wettbewerbs, womit ich auch gar nicht gerechnet hatte. Aber ich habe den Text von damals aufgehoben, und so kann ich ihn hier zur Vorweihnachtszeit vorstellen:
Adalbert Stifter
Bergkristall
„Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen.“
Es ist dem Autor gelungen, hohe Spannung gepaart mit tiefem Mitgefühl zu erzeugen: Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, verirren sich am Weihnachtsabend bei starkem Schneefall im Hochgebirge. Minuziös und präzise wird die Wanderung der Kinder, die ungewollt hinauf zum Berggletscher führt, geschildert. Es wird Nacht, und die Kinder bringen sie in einer Gletscherhöhle zu. Mit den Kindern bestaunt der Leser die Bergwelt im Eis und bei Nacht, vor allem den Himmel, den die Kinder, die sich anstrengen nicht einzuschlafen, mit offenen Augen lange betrachten. Am nächsten Tag machen sich die Kinder erneut auf den Weg nach Hause, aber sie finden nicht aus dem Eis heraus. Dann endlich meinen sie, etwas Rotes zu sehen und ein Hirtenhorn zu hören. Richtig! Leute aus ihrem Dorf haben sie endlich gefunden. Nun geht es auf sehr schwierigen Wegen hinab ins Dorf. Bald klärt sich alles auf: Die Kinder waren, ohne es zu wissen, über das Gletschereis und die Schründe gegangen und wäre ein Wind gegangen und nicht so viel Schnee gefallen wie seit hundert Jahren nicht mehr, so wären die Kinder verloren gewesen. - Eine wunderbare religiöse Erzählung mit starker Symbolkraft.
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